Mongolischer Herbst

September /Oktober 2007

Eine Kurzgeschichte aus dem Mongolisch-Sibirischen Grenzland

 

 

Es ist nur ein kurzes Ziehen an der Schnur, die straff durch meine Finger fährt, um sich gleich wieder locker und lose anzufühlen. Die große Fliege am anderen Ende gleitet wieder durch die Strömung des Flusses und ich kann nicht einmal sagen, ob es ein Lenok oder Taimen gewesen war, der meine Fliege kurz ins Maul nahm…..
Als die Schwimmschnur mit der langsam sinkenden Spitze ganz herumkommt und beinahe längsseits zum Ufer schwimmt, an dem ich stehe, hole ich die Schnur rhythmisch ein und werfe sie mit der langen Zweihandrute wieder quer über den Fluss aus. Ich stehe am rechten Ufer des Shishkid, den man nicht durchwaten kann, nicht einmal mit Pferden, und muss über die linke Schulter auswerfen. Aber an diesem Pool habe ich einen breiten Sandstrand und ein farbiges Kiesufer und das Werfen ist leicht und angenehm.

Selbst Würfe über den Kopf gehen hier. Ich muss nur mit einem einfachen Rollwurf die Schnur ganz von der Wasserfläche heben und dann mit einem flüssigen Rückwurf die 15 Fuß Rute wieder aufladen, die Richtung ändern - und schon surrt die Schnur durch die Ringe nach Vorn und bringt selbst die schwere Fliege wieder in die Mitte des Flusses. Nur noch ein lässiges „menden“ gegen die Strömung, um die Schnur zu richten und um die Fliege nicht zu schnell werden zu lassen und ich kann mich wieder ruhig an dem bunten Wald gegenüber sattsehen und an den dunklen und mit grünem Moos bewachsenen Felsen am Flussufer.
Nun bin ich wieder in der Wildnis. Wieder Zuhause. Wieder dort, wo die Erde noch jung ist. Allein in den Bergen und allein mit meinen Gedanken. Der Oktobertag ist sonnig und das weiche Licht und die goldenen und bronzenen Farben des mongolischen Herbstes verzaubern mich. Der wilde türkisfarbene Fluss rauscht und plätschert freundlich.

Am Morgen hatte ich eine frische Bärenspur im Ufersand gefunden, eine knappe Meile weiter stromabwärts in Richtung Sibirien. 

Meine stille Freude über den Herren der Wildnis hebt meine gute Laune noch mehr und die tiefe Zufriedenheit, die mich ausfüllt. Wo mochte er jetzt sein? Weiter oben in den unzugänglichen Schluchten oder drüben in dem großen Windbruch, um sich im Dickicht vor dem Tageslicht und vor menschlichen Blicken zu verbergen? Sein Prankenabdruck ist groß und tief. Im Vergleich mit Berg-Grizzlys in Alaska schätze ich ihn vorsichtig auf 250-300 kg. Aber mongolische Jäger, mit denen ich vor einigen Tagen sprach, lächelten nur über meine Schätzungen. Der Braunbär hier in den nördlichen Provinzen an der sibirischen Grenze soll sehr groß werden, gute 400 kg jetzt im Herbst, wenn es ein alter, reifer Bär ist. Was würde ich darum geben, wenigstens einen flüchtigen Blick auf ihn werfen zu dürfen. Sicher weiß er längst von meiner Anwesenheit, so wie ich über ihn Bescheid weiß…..

Vor einer Woche kam ich mit dem Floß den Shishkid herunter, etwa 30 Meilen Stromabwärts von unserem Hauptlager am Tengis, wo ich die Freunde zurückgelassen hatte, und etwa 12 Meilen unterhalb des letzten Wildnis-Camps Chanagai. 
Aus Ulan Bator kamen wir mit dem Helikopter. Drei Stunden Flug bis zur kleinen Provinzstadt Moron und nach dem Auftanken noch weitere 2 Stunden bis zu unserem Hauptlager aus Blockhütten am Zusammenfluss der Ströme Tengis und Shishkid. Der russische Kriegshelikopter war in fabelhaftem Zustand, umgerüstet und zusammen mit den erfahrenen Piloten eigentlich ganz zivil und Vertrauen erweckend. Kein Wunder, denn die Maschine gehörte der Regierung und dem mongolischen Präsidenten, war frisch gestrichen in den freundlichen Landesfarben orange und himmelblau. Das gute Stück kann gelegentlich gechartert werden zum Ausfliegen von Angelgästen.

Der Flug war bequem, aber doch aufregend und die Landschaft unter uns atemberaubend schön und inspirierend.  Wir flogen immer in Richtung Nord-Westen. Aus der staubigen Steppe wurde hügeliges Prärieland, grün und saftig. Dann bewaldetes Bergland mit lichten Kiefernwäldern und goldgelben Lärchen. Und immer wieder breite, im Sonnenlicht glänzende Ströme, die wie Adern das weite Land durchwanden. An den Ufern weiße Jurten und bunte Herden von Pferden, Yaks, Ziegen und Kamelen. Ich konnte mich von dem runden Bullauge des Helikopters nicht losreißen und musste immer das weite Land unter mir betrachten. Nirgends Straßen oder Brücken, keine größeren Siedlungen, keine Narben in die unberührte Haut der Mutter Erde eingraviert. Nur Nomaden und ihre Herden erinnerten hier und da an menschliche Besiedelung. 


Für meine Anglerfreunde aus Tschechien hatte ich schon die dritte Flasche französischen Rotweins entkorkt, die wir aus Moskau mitgebracht hatten. Wir waren zu Späßen aufgelegt, lachten fröhlich über die robuste Technik des Helikopters und boten den mongolischen Piloten von unserem Wein an. Alle waren voller großer Erwartungen. Wir liessen das abgelegene Darhat-Becken im äußersten Norden des Landes hinter uns. Dann kam schließlich der Tiefflug den Shishkid entlang und auf unser Lager zu. 
Über uns das pulsierende Klatschen der Rotoren. Unter uns der gleißende Fluss im Abendlicht. Vor uns die Bergkette der wilden Ost-Sajannen, das Grenzgebirge zu Sibirien. Meine abgegriffene NIKON F3 Spiegelreflex, die klassische Kamera der alten Kriegsfotografen, wartete in meinen Händen auf ihren Einsatz, die passende Blende am schnellen 28 mm Objektiv schon ausgewählt….
Das Camp tauchte auf. Solide gebaute Blockhütten, Rauch zog aus den Kaminen, Koppeln mit Pferden, russische Geländewagen. Einheimische liefen zusammen, als wir langsamer wurden, in einer Schleife wendeten und schließlich runter gingen. Das Land war trocken hier oben, wir wirbelten Staub und vergilbtes Gras auf. Ich saß direkt an der Luke und sprang als erster heraus. 
Meinen Rucksack warf ich von der Schulter und kniend fotografierte ich das Aussteigen der Freunde, die ein wenig schwankten. Die alte Nikon mit aufgesetztem Motordrive schoss wie eine Kalashnikov. Der Angler Tom Hammer, ein Angelführer aus Brünn, wurde von den Mongolen herzlich umarmt. Unsere Ausrüstung wurde eilig ausgeladen, die Kisten mit Proviant und mit dem original böhmischen Budweiser Bier. Dann richtete ich mich auf und schaute mich um:
Mein Gott, was für ein Land !  ….Die endlose Weite, die bewaldeten Berge ringsum, das Blau des klaren Himmels, die schneebedeckten Gipfel im Hintergrund, das goldene Licht der tiefstehenden Sonne…. hier war es wie im Westen von Montana.  Aber ein noch junges Montana vor einhundert Jahren….


Wir waren in einem wilden Hochland auf etwa 1300 Meter Höhe und umgeben von 3500 Meter hohen Berggipfeln. Der Helikopter hob wieder ab, wendete langsam, gewann ein wenig Höhe und flog weiter den Fluß entlang, Richtung Camp Chanagai, mit den Angelgästen aus Australien und Neuseeland. Weiter in Richtung Nord-Westen, wohin der Shishkid fließt, der durch die Berge der Ost-Sajannen bricht, um auf der sibirischen Seite zum Kleinen Jenissei zu werden, der in den Großen Jenissei mündet, sich nach Norden wendet, den ganzen Kontinent durchquert, um sich schließlich in das Nordpolarmeer zu ergießen….


Am nächsten Morgen war ich vor Sonnenaufgang am großen Pool des Flusses, als noch alle schliefen. Ich belichtete den ersten Diafilm mit dem Licht der aufgehenden Sonne, welches eine neue Welt für mich erhellte und dann vollkommen ausfüllte, am Zusammenfluss der beiden Ströme. Der eiskalte Tengis aus den Bergen des Nordens und der breite Shishkid aus dem Hochland des Ostens. Dann watete ich einige Schritte hinaus in den kalten Strom und machte abwechselnd die ersten Würfe mit meinen englischen HARDY-Origin-Ruten, um mich aufzuwärmen und zum Kennenlernen des Wassers. Die 10 Fuß lange Einhand-Rute Nr.7 mit Schwimmschnur, bestückt mit langem Vorfach und Nymphen für Lenok-Forellen, und die 15 Fuß lange Zweihand-Rute Nr. 10/11 mit schwerer Schnur und Sinkspitze für große Streamer-Fliegen auf Taimen-Huchen.
Eine olivgrüne Goldkopf-Nymphe fand schließlich Gefallen und ich hakte den ersten Lenok. Wie stark diese Forellen waren. Die HARDY-Perfect Rolle begann metallisch zu surren und klang eisig an diesem Morgen. Der unablässige Zug des Fisches prüfte das Rückgrat der langen Einhandrute, die pulsierenden Bewegungen der Forelle, das Schlagen ihres Kopfes, war bis tief in den Korkgriff und in meiner rechten Hand zu spüren. Ich konnte mir den Fisch leicht vorstellen, wie er sich wehrt und in die Tiefe des Gumpens zieht. Als er etwas  müder wurde, bekam ich ihn schließlich an die Oberfläche, hörte die tief glucksende Welle, die nur eine große Forelle verursachen kann, und sah ihre dunkle Rückenflosse in dem Wasserring.  Immer wieder zog der stolze Fisch hinaus in die Strömung, bis er sich schließlich widerwillig ergab und endlich heranziehen ließ. In Ufernähe konnte ich ihn jetzt in seiner ganzen Schönheit bewundern.

Dann ließ er es zu, dass ich ihn in meine nasse, linke Hand nehmen und ein wenig aus dem Wasser heben konnte: Dichtgesäte, schwarze Tupfen auf brauner Haut und silbernen Schuppen. Ein wirkliches Prachtkleid mit großen, orange-roten Markierungen auf den Flanken, milchweiß gesäumte Brustflossen und eine breite, rötlich gefärbte Schwanzflosse. Mein erster Lenok wog 5-6 Pfund und war etwa 70 cm lang. Der massive Haken meiner Fliege, mit weit offenem Bogen und scharfer Speerkopf-Spitze ohne Widerhaken, ließ sich einfach aus dem Kiefer herausziehen. Ich bewunderte den erschöpften Fisch noch eine Weile, während ich ihn in der Strömung hielt und gut durchatmen ließ. Als er wieder zu Kräften kam, gab ich ihn mit einem Dank an den Fluss zurück.

Den zweiten Lenok, einen feisten 8-Pfünder, schlug ich ab, um die Wassergeister nicht zu kränken, die mir so gnädig waren, und sprach mein kurzes Dankgebet an den Fluss.
Ich machte einige Fotos, nahm den Fisch aus, legte die Ruten wieder zusammen und packte sie zurück in meinen kleinen Jagdrucksack. Auf dem Rückweg zum Lager freute ich mich auf das erste, frische Anglerfrühstück. Die große Forelle baumelte schwer in meiner Hand und bis ich zum Camp gelaufen war, gefror mein Finger zu einem steifen Haken im Fischkiefer.
Aber meine Kameraden, die verschlafen aus den gemütlich warmen Hütten stolperten, bewunderten alle unseren ersten Lenok. Auch der Angler und Autor Olivier Portrat aus Saarbrücken mit seiner berühmten Fotokamera war noch im Camp und sollte erst an diesem Morgen zurückreisen. Einige wertvolle Ratschläge des erfahrenen Bildjournalisten nahm ich dankbar auf. Dann die frische Forelle auf Butter gebraten, von den lächelnden mongolischen Mädchen in der Küche serviert, und das Frühstück schmeckte wie noch nie zuvor….

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Ein heftiger Ruck an der Leine bringt mich zurück an den einsamen Pool des Shishkids in der Wildnis! Die Fliegenschnur strafft sich und saust durch meine linke Hand und durch die Ringe der langen Zweihand-Rute. Ohne darüber nachzudenken, lasse ich die Leine hinausgehen. Der Fisch zieht noch mehr Leine ab und die große englische Lachsrolle beginnt zu surren. Die Rutenspitze zeigt ins Wasser, der Fisch fährt zügig in die Mitte des Pools hinter der Strömung. Jetzt greife ich mit der rechten Hand in die Leine und drücke sie fest an den langen Korkgriff der Rute, hebe gefühlvoll und kräftig an, und spüre die Härte der Fliegenschnur unter meinen Fingern. Die gespannte Leine springt spritzend aus dem Wasser, die Rute biegt sich tief durch, ich fühle das Gewicht eines großen Fisches am anderen Ende….

Mein Herz schlägt jetzt heftig, ich spüre wie mir der Puls in den Hals und bis in die Schläfen fährt. Nach dem langen Warten und nach so vielen Würfen endlich ein entschlossener Anbiss. Ich hebe noch einmal an, diesmal kräftiger und fühle, wie sicher der einfache, geschmiedete Haken sitzt. Der überraschte Fisch zieht noch mehr Leine ab, -rrrrrr…. knurrt die Rolle zufrieden, und die Schnur geht weit hinaus bis in das unterlegte Backing auf der großen Rolle. Aber der Fisch bleibt ruhig, zieht beständig in die Tiefe seines Gumpens und scheint jetzt dort angekommen zu sein, wo er hin wollte. Meine klammen Finger finden die kleine Kurbel an der HARDY-Rolle und ich versuche, wieder etwas Schnur zurückzubekommen. 


Es ist spät geworden am Fluss, die Sonne verschwindet bald hinter den Berggipfeln der Schlucht und es wird dunkel und kalt. Das Heft der Zweihandrute habe ich in die Hüfte gestemmt. Die Bremse an der Rolle ist angezogen. Immer wieder hebe ich die durchgebogene Rute rhythmisch an und abwechselnd winde ich Schnur zurück auf die Rolle. 
Dazwischen zieht der Fisch die gewonnene Schnur wieder ab und hat sich jetzt aus dem tiefen Gumpen Flussabwärts gewendet. Ich sehe wie er versucht, die starke Strömung zu nutzen, um mehr Kraft gegen die Leine zu setzen. So folge ich ihm mit der Strömung am Ufer entlang und bekomme ihn langsam aus der Tiefe und auf meine Seite des Flusses herüber. 
Jetzt steigt er und springt, schon ein gutes Stück stromabwärts, mit dem ganzen langen Rumpf aus dem Wasser, steil und aufrecht, den Kopf hin und her schlagend, die Kiemen weit geöffnet. Was für ein verdammt herrlicher, starker Huchen! Dann zieht er wieder Leine hinaus und springt noch einmal, wütend und entschlossen, den Haken im Maul abzuschütteln. Ich sehe ihn grau und farblos über dem glänzenden Fluss in der jetzt lichtlosen Bergschlucht. Er verschwindet wieder in der Strömung, aber ich fühle, dass sein Widerstand schwächer wird und ich weiß jetzt, dass ich ihn bekomme….
Als ich die Schnur endlich ganz zurück habe auf der Rolle, kommt der große Fisch gegen den Druck der Rute ans Ufer heran, wo ich bis zu den Schenkeln im Fluss stehe. Der Huchen stemmt nur noch sein Gewicht gegen meinen Zug, so wie es große, ältere Fische tun, aber er weiß bereits, dass er verloren hat. Als ich ihn heranführe an meine linke, freie Hand, fällt mir zuerst der starke, kegelförmige Rumpf des Fisches auf. Nicht wie ein silberner Lachs, der frisch aus der See heraufzieht, sondern wie ein dunkles Torpedo aus der Tiefe des Stromes gehoben. Dann sein großes, ausdrucksvolles Auge, wie er mich ruhig aus dem Wasser heraus anschaut und sich endlich von mir berühren lässt….
Ich habe das Gefühl, dass der geheimnisvolle Fisch gekränkt ist. Er schaut mich widerwillig und fast angeekelt an, als ich ihn sanft ein wenig aus dem Fluss hebe. Dabei gibt er einen röchelnden, protestierenden Laut von sich. Aber er wehrt sich nicht und ich lasse ihn in der Strömung ausruhen, streiche beruhigend über seinen Bauch und kann mich nicht sattsehen an der prachtvollen, reich getupften Zeichnung seiner Flanken, dem dunklen Rücken, den großen, rötlich gefärbten Flossen und dem markanten grünen Kopf mit dem breiten Maul.

Zwischen Steinblöcken im Fluss stelle ich den schweren Huchen aufrecht gegen die Strömung, damit er atmen und damit ich meine Fliegenrute ablegen kann. Mit den freien, nassklammen Händen suche ich jetzt meine alte manuelle Spiegelreflex aus dem Rucksack und setze das lichtstarke 55 mm Nikkor Makro-Objektiv auf. Im letzten Licht des reflektierenden Flusses gelingen mir einige Aufnahmen mit meinem ersten Taimen im Norden der Mongolei und mit der selbstgebundenen, bunten und langen 
Fliege im Maul. Der schwere geschmiedete Haken fällt von selbst aus dem Winkel des harten Kiefers. Ich beuge mich ein letztes Mal über den geduldigen Huchen, küsse ihn auf die Stirn und wende ihn sanft gegen die tiefere Strömung des Shishkids. Mit einem einzigen, raschen Schlag seiner Schwanzflosse verschwindet er wieder in der dunklen Tiefe, als hätte er nur darauf gewartet, bis ich das für ihn tue…

Am Ufer des Shishkids stehe ich an meine Zweihandrute gelehnt und schaue ruhig über den strömenden Fluss. 
Nach einer Weile geht der Mond über dem Wald auf, der Herbsthimmel ist klar und frostig. In einigen Tagen ist Vollmond. Es ist still und friedlich hier, kein Windhauch, nur der Fluss rauscht und murmelt leise. Ich versuche seine Melodie herauszuhören, um mich später daran erinnern zu können. Dann zünde ich mir eine der Zigarren an, die ich nach der Floßfahrt wieder trocknen konnte, lege langsam meine treue Rute zusammen und packe die Angel– und Fotoausrüstung wieder in den Jagdrucksack. Nun ist es beinahe Mitternacht, als ich wieder an meiner Jagdhütte auf dem Hügel über dem Fluss ankomme. Unter dem hellen Mond kann ich dem Wildpfad gut folgen und dann steht die Blockhütte wie verzaubert im Mondlicht vor mir auf der stillen Waldlichtung. 
Bald habe ich das vorbereitete trockene Brennholz im kleinen Ofen angezündet und es flackert ein lustiges Feuer in der dunklen Hütte. Ich zünde noch eine Kerze an und bereite mein Abendessen vor. Nachdem es warm geworden ist und der Teekessel auf dem Ofen zischt, lege ich mich auf meinen Schlafsack auf der Holzpritsche neben dem großen Fenster. Es ist hell draußen und die Sterne blinken am frostigen Nachthimmel. Im flackernden Kerzenlicht schaue ich auf die grob behauenen Wände der Blockhütte. Meine Bekleidung und die Angelausrüstung sind an großen Nägeln aufgehängt. Gegenüber der verriegelten, schweren Tür hängen mein Langbogen und der Lederköcher mit hölzernen Jagdpfeilen an der Wand. Darunter noch eines der beiden Waldhühner, die ich geschossen hatte, und ein paar große Äschen von heute Morgen. Auf dem Brett hinter dem Ofen habe ich noch dunkles mongolisches Brot im Leinenbeutel, Butter, Hirtenkäse, etwas Marmelade und ein paar Konserven mit Bohnen und Linsen. Morgen werde ich mir das wilde Haselhuhn zum Mittagessen zubereiten und noch einen Lenok für meine Küche fangen.
Die Müdigkeit ist angenehm in der Wärme der Hütte, das harzige Lärchenholz im Ofen knistert und ist mir eine gute Gesellschaft. Meine Gedanken gehen langsam in den Schlaf über und Bilder aus den letzten Tagen und Wochen kommen in mir auf, wie Träume aus längst vergangener Zeit, obwohl ich das alles doch erst vor Kurzem erlebt hatte….

Die Blockhütten unseres Hauptlagers am Tengis erscheinen mir und die Abende mit meinen tschechischen Freunden und mit den guten Mongolen, die für uns kochten und sorgten. Jeden Morgen der treue Zorek an der Tür in meinem Zimmer, der das Feuer im Ofen jeder Hütte anzündete, bevor wir aufstanden. Die warme Milch für mich in einem Krug zum gebratenen Frühstück. Das kleine Hirtenmädchen, die von der Nomadenfamilie in der Nachbarschaft jeden Morgen frischen Joghurt für mich brachte und frische, noch taunasse Preiselbeeren aus dem Wald. Wie herb und süß die knackigen roten Beeren schmeckten, in dem rahmigen Joghurt aus der Milch der halbwilden Yaks. Dann das große Kalb, welches bei unsere Ankunft geschlachtet wurde und die saftigen Steaks jeden Tag, soviel wir nur wollten. Zur Abwechslung Ziegenfleisch und Lamm, Wild aus den Wäldern und frischen Fisch aus den Flüssen.


Ich musste lächeln, wie die mongolischen Jäger mein geschmiedetes Jagdmesser bewunderten, als ich Ihnen beim Aufbrechen und Abhäuten des Kalbes half. Mit einem alten Griff gelang es mir, das Schloss im Becken des Rindes zu öffnen, nur durch Druck der kräftigen Klinge auf die Naht des Knochens, und ganz ohne zu hacken oder zu sägen, fiel das große Becken glatt und sauber in zwei Hälften auseinander wie die Schalen einer frischen Walnuss. Das Messer wurde bewundert und ging von Hand zu Hand. Meinen englischen Langbogen und den verzierten Köcher mit punzierten keltischen Ornamenten und mit Jagdpfeilen prall gefüllt, berührten die Männer nur respektvoll und wie ein Heiligtum. 

Das kleine Mädchen aus der Nachbarschaft traf ich beim Angeln am Fluss, als sie ihre große Ziegenherde hütete, und ich sprach mit ihr, fragte sie auf Russisch über dies und das zu ihren Tieren. Am nächsten Morgen kam sie wieder in unsere Küche mit einer großen Schüssel voller Joghurt für mich. Dafür bekam das Mädchen Frühstück in der Küche. Ich sprach mit den älteren Mädchen, die für uns kochten, und lud das Kind noch auf einen Tee ein. Sie hieß Mirna, war 9 Jahre alt und setzte sich zu mir an den Tisch.

Ich hatte ein Geschenk für sie, ein kleines Holzspielzeug, wie ich es für die mongolischen Kinder mitgebracht hatte. Es war nur ein kleiner Kreisel und ein Jo-Jo, aus Ahornholz gedrechselt und in einem Leinenbeutel verwahrt.  Aber sie lachte so fröhlich darüber und wir spielten mit dem Kreisel am Tisch und sprachen russisch und ein paar Worte englisch, die sie verstand. Ich musste die Geschicklichkeit bewundern, mit der sie das neue Spielzeug schnell meisterte. Diese Geschicklichkeit und den unglaublichen Lerneifer kannte ich von Eskimo-Kindern aus den Dörfern der Brooks-Range Berge im Norden Alaskas. Alle Kinder der Inuit wirkten auf mich hochbegabt und ebenso offenherzig und aufgeschlossen. Sicher hilft ihnen dabei die ruhige Geduld ihrer Eltern, aber auch die Erziehung zu selbständiger Arbeit von klein auf,  und zu Verantwortung und Sorge um ihre Tiere, für die Familie, ihre jüngeren Geschwister und für den Clan, ohne den sie nicht überleben könnten in diesem rauen Land. Aber hier war es noch etwas anderes, was ich beobachtet hatte. Etwas bezauberndes, was ich nur in Asien und besonders hier bei den Frauen im Norden der Mongolei gesehen habe. Es war eine natürliche, angeborene Anmut und Würde. Die besondere Sorgfalt, mit der jede einfache Bewegung ausgeführt wurde. Die Art, wie die Frauen ihren Kopf hielten und der ruhige Stolz, der auf  ihrem Gesicht lag. Die Gastfreundschaft, mit der Besucher behandelt wurden und die Ehrfurcht, die den einfachsten Dingen des Lebens entgegengebracht wurde. Bereits dieses Kind von 9 Jahren hatte schon diese Anmut. Man hätte sie nicht als besonders hübsch bezeichnen können. Ihr Gesicht hatte die ausgeprägten breiten Backenknochen ihrer Rasse, eine etwas platte Nase und schmale Augen. Aber jede ihrer feinen Bewegungen und ihre Worte waren so wohlüberlegt, sicher und dabei so natürlich, dass ich staunen musste.
Als sie bemerkte, dass ich ihr Gesicht betrachte, da schaute sie mir gerade und offen in die Augen und dann lächelte sie so freundschaftlich und so aufrichtig, dass mir ganz warm ums Herz wurde. Noch später beim Angeln am Fluss musste ich an ihr Lächeln denken. Ich hatte nichts, was ich diesem Kind hätte geben können, nichts womit ich ihre Freundschaft verdient hätte. Und sie hatte mir so ein Geschenk gemacht. So ein Lächeln, welches mich glücklich macht, wann immer ich mich an das Nomadenmädchen erinnere…

Dann tauchen wieder Bilder vom Fluss in mir auf.  Zuerst fuhr das Floß langsam durch das ruhige Wasser. Der frühe Morgen war bereits mit Sonnenlicht durchflutet und wir glitten gemächlich an den großen Steinblöcken im Fluss vorbei, als wir unser Lager am Tengis verließen. Die bewaldeten grünen Ufer mit den goldgelben Lärchen im warmen Licht des Morgens. Umgerissene Bäume, aufragende erdige Tellerwurzeln, knorrige alte Stämme, bizarre Felsen und graue Steinquader im Strom, die wilde Welt des Flusses. Im Hintergrund die Felsengipfel der Schneebedeckten Berge, zwischen denen der Shishkid hindurch muss. Dahinter die endlose Taiga und die Weite Sibiriens. Die Wildnis lag offen vor mir.

Zorek saß auf dem anderen Rand des Schlauchbootes und nach einigen Meilen waren wir mit unseren Paddeln gut eingespielt. Ohne Schwierigkeiten konnten wir an Felsblöcken vorbeilenken, die in der Mitte des Flusses aufragten. Große schwarze Kormorane flogen auf und die Felsen waren weiß gekalkt von ihren Standplätzen über den fischreichen Gumpen. Zorek hatte ein dauerndes Lächeln auf dem Gesicht und jedesmal, wenn sich unsere Blicke trafen, mussten wir beide lachen. Der magische Fluss hatte uns völlig verzaubert und wir waren ihm und seiner wilden Schönheit ganz verfallen. Nach einigen Stunden wurde die Fahrt rauer und wir lenkten durch schnelleren Strom. Zu unserer Rechten ragten jetzt hohe, zerklüftete Felswände auf. Bevor der Fluss zu schnell wurde, legten wir unter den Felsen an und zogen das Floß auf die Kiesbank. Vor mir lag der tiefe Pool „Presidentskaja“ zwischen den Felsen. Nach einigen Würfen mit der langen Zweihandrute von der linken und von der rechten Schulter, war ich aufgewärmt und das Fliegenfischen ging gut.

Ich fing ein paar große Forellen mit bunten Nassfliegen und Nymphen in den natürlichen Farben gelb und grün, die mir selbst so gut gefielen, und mit ein wenig Rostbraun oder etwas Karminrot am Kragen. Aber keinen Huchen an diesem hellen, sonnigen Tag. Ich arbeitete mich um den großen Pool herum, bis an das auslaufende Schwanzende des Gumpens. Dort blieb ich im Wasser stehen an einem umgestürzten Baum, der in den Fluss ragte, und wechselte die Fliege. Ohne aufzuschauen, warf ich dann mit Routine wieder aus und mein Blick folgte der Fliege, die beinahe in der Mitte des Flusses landete direkt vor dem Kopf eines Bären im Wasser. Am hellerlichten Vormittag schwamm doch wirklich ein Bär über den reißenden Fluss! Der nasse Schädel des Bären sah ein wenig lustig aus und die runden Ohren wirkten übergroß, als er auf mich zu geschwommen kam. Obwohl nur der Kopf mit der langen Schnauze aus der Strömung ragte, konnte ich am noch kindlichen Gesichtsausdruck erkennen, dass es ein Jungbär war. Aber er hielt direkt auf mich zu und wollte offensichtlich an der gleichen Uferspitze mit dem liegenden Baumstamm aus dem Wasser steigen, die ich mir auch ausgesucht hatte. Mit der Spitze meiner 15 Fuß Zweihandrute hätte ich ihm jetzt schon den Scheitel zwischen den großen Ohren zurechtlegen können, aber er sah mich immer noch nicht. In meiner olivgrünen Wathose machte ich einen Schritt in Richtung Ufer und von dem umgestürzten Baum weg. Diese Bewegung und meine losgelöste Silhouette bemerkte er jetzt und ich konnte den Schrecken auf seinem Gesicht sehen. Er schaute sich verzweifelt um in der Strömung und erkannte, dass das andere Ufer für ihn schon unerreichbar war, und so ließ er sich mit der Strömung etwas abtreiben und stieg etwa 50 Schritte unter mir ans Ufer. 
Ohne sich das Wasser aus dem dunklen Pelz zu schütteln, spurtete er sofort den steilen Berghang zwischen den Felsen hinauf, dass losgelöstes Geröll und Erdbrocken herunterkamen. Erst nach guten 200 Metern, als er ganz oben auf der Felsenkante angekommen war, blieb er stehen und schaute zu mir herunter und fragte sich neugierig, was das für eine seltsame, zweibeinige Gestalt war, die da im Wasser stand. 
Dann wandte sich der zwei- oder dreijährige Jungbär ab, der scheinbar seinen ersten Herbst allein und ohne die erfahrene Bärenmutter verbrachte, um irgendwo sein Glück zu finden auf seinem abenteuerlichen Weg….

Am Nachmittag näherten wir uns auf dem Floß dem letzten Wildnis-Camp vor der Grenze. Über Stromschnellen glitten wir unter dem hoch aufragenden „Weißen Felsen“ vorbei und durch einen weiteren, tiefen und breiten Pool, der bekannt ist für seine riesigen Huchen. Aber wir mussten weiter, um noch vor dem Abend mein Ziel zu erreichen, nahe der offenen sibirischen Grenze. Durch rauen Strom und dicht an schattigen und moosbewachsenen Felsen vorbei, glitten wir schließlich in ruhigeres Wasser und am rechten Ufer erschienen die rotbraun gefärbten Blockhütten von Chanagai.
Die Hütten waren hoch über dem Fluss gebaut und ich klopfte an die klobige Tür des Haupthauses. Alles war still und leer wie im Mittagsschlaf. Ich öffnete die Holztür und hörte eine Bewegung hinter dem Ofen im dunklen Raum, als ich eintrat. Ein verschlafener Mongole stand in der finsteren Ecke auf. Im Halbdunkel der Hütte sah er irgendwie zottelig aus mit dem verstrubelten Haar. Auf der Wange hatte er einen Rußstreifen vom Ofen. Bald kam das Mädchen mit einer warmen Mahlzeit für uns und es knisterte gemütlich im Ofen. An den Wänden hingen lange Gehörne und Geweihe von Steinböcken, Elchen und Maralhirschen, dazwischen gerahmte Fotografien von wirklich riesenhaften Taimen-Huchen.
Ich brauchte einen weiteren Führer, der die Stromschnellen unterhalb des Lagers kannte und der wusste, wo die neu gebaute Jagdhütte war. Der Zottelige schaute meinen Zorek ungläubig an, schüttelte den Kopf und fragte immer wieder das gleiche in seiner Sprache. Er weigerte sich offensichtlich. Ich begann den Preis auszuhandeln und nach einer Weile waren wir uns einig. Zusammen mit meinem zweiten Führer verließen wir Chanagai wieder. Ich saß jetzt im Bug des Floßes und überließ das Rudern den beiden Mongolen im Heck. Der Neue hatte sich einen abgetragenen alten Soldatenmantel übergeworfen und mit der abgerissenen, schief aufgesetzten Wollmütze sah er jetzt noch zotteliger aus.

 

Wir glitten durch einen weiteren großen Pool, an dessen Ufer zwei Angler standen. Es waren zwei der Neuseeländer. Ich lüftete meinen Lodenhut und grüßte. Sie erwiderten meinen Gruß und standen verdutzt am Ufer, mit ihren Angeln in der Hand. Die Beiden standen immer noch unbeweglich da und schauten uns nach, als wir um eine Flussbiegung herum verschwanden.  „- Warum entführen die beiden Schmuggler den Deutschen nach Russland?“ schienen sich die Zwei am Ufer zu fragen...
Wir durchquerten magische Orte von wilder und bezaubernder Schönheit, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Staunend betrachtete ich die bizarr gewachsenen Felsen. Vom Fluss ausgewaschen und geformt, manche mitten im Strom und dahinter tiefe und dunkle Gumpen, die ohne Zweifel von den geheimnisvollen großen Huchen bewohnt waren. 

Viele schwarze Felsblöcke lagen verstreut im Shishkid, wie von einem Riesen herumgeworfen, manche aufgetürmt zu fantastischen und hoch aufragenden Skulpturen, an deren Gipfel ein schwarzer Kormoran thronte, seine Flügel zum Trocknen weit ausgebreitet wie ein Drache. Gelassen und verächtlich schaute er auf uns herab, als wir an ihm vorbeiglitten.
Nach einigen Stunden Flussfahrt sah ich im verschlafenen Gesicht des Zotteligen etwas wie einen Funken Aufregung aufkommen. Ich saß bequem mit dem Rücken zur Fahrtrichtung im Schlauchboot und hörte ein verdächtiges Rauschen hinter mir. Auch das Gesicht meines guten Zorek sah beunruhigt aus. Ich drehte mich um.  – Das „Elektrizitätswerk“!  Davon hatte ich gehört, einfach nur steile Stromschnellen, aber von irgendeinem kommunistischen Poeten so benannt, der irgendwann hier durchgekommen war. 
Unsere Fahrt wurde sehr schnell und rau. Wir wurden durchgeschüttelt und Wellen spritzten über meinen Rücken. Jetzt sah ich sogar Angst und Verzweiflung in den Augen der beiden paddelnden Mongolen. Ich umarmte den Rucksack und den Seesack vor mir im Boot und hielt meine Ausrüstung fest,  ... und mit einem Schwung ging es hinab in die tosende Tiefe….
Als wir wieder in ruhigeres Wasser kamen, richtete ich mich auf und sah mich um. Wir waren nicht einmal gekentert. Wir waren alle völlig durchnässt, aber wir hatten nichts verloren. 
Ich sah den rauschenden Wasserfall, über den wir gekommen waren, den feuchten Nebel um uns herum und den tiefen Gumpen, versperrt mit etlichen Baumstämmen und Treibholz. Die beiden Mongolen schauten ganz stolz unter ihren nassen Mützen hervor. 
Es war sehr kalt und dunkel hier unten. Wir fuhren durch die lichtlose Schlucht und es begann zu regnen. Bei Einbruch der Nacht zogen wir das Floß an einer Flussbiegung ans Ufer. Hier irgendwo musste die Hütte sein. 
Der Zottelige kam nach einer Ewigkeit zurück und lachte zufrieden. Nass und durchgefroren kämpften wir uns den steilen, schlüpfrigen Berghang empor, mit der Proviantkiste und mit meinen Rucksäcken. Oben auf dem Hügel stand tatsächlich eine ganz neue Blockhütte auf einer kleinen gerodeten Lichtung. Es roch nach frischem Holz und nach geschälter Rinde.

Der Teekessel zischte auf dem kleinen schwarzen Ofen. Es war warm geworden in der Jagdhütte und unsere dampfenden Mäntel und Hemden hingen zum Trocknen an den Wänden ringsum. Wir saßen um den kleinen, roh behauenen Tisch an dem Stützpfeiler in der Mitte der Hütte und tranken heißen Tee. Eine Kerze flackerte zwischen uns auf dem Tisch. 
Nachdem wir herzhaftes Brot mit Butter und Hirtenkäse gegessen hatten, legten wir uns auf die noch feuchten Decken auf den Holzpritschen entlang der Wände und ruhten uns aus. Es war finster draußen und es regnete. Aber wir hatten genug trockenes Feuerholz in der gemütlichen Hütte. Ich lag neben dem Fenster und wunderte mich, warum die beiden Fenster so groß in die Wände eingelassen worden waren. Wir sprachen auf  Russisch und ich erklärte Zorek, dass ein Bär ganz einfach hereinkommen kann, wenn die Hütte nicht bewohnt ist, um sie nach Lebensmitteln und Vorräten abzusuchen. Es wäre doch besser ganz kleine Fenster zu bauen, wo der Bär gerade den Kopf durchstecken kann.

Die beiden Eingeborenen dachten eine Weile nach und lachten dann. Der Zottelige streckte mir den Arm entgegen und machte eine Bewegung, als ob er mir die Hand schütteln würde mit den Worten: „Jan – Medved“. Damit meinte er, dass mir der Bär doch die Tatze durch das Fenster reichen kann zur Begrüßung. Wir mussten alle lachen. Ich machte eine Pantomime, als ob mich der Bär am Kopf gepackt hätte und versuchte, mich durch das Fenster nach draußen zu ziehen. Dabei zuckte ich noch mit dem Bein, wie ein letztes Lebenszeichen. Dann begannen wir abwechselnd alle Bärengeschichten zu erzählen und auszutauschen, die wir kannten. Bis wir müde wurden. Und vor dem Einschlafen unterhielten wir uns noch über die Taimen-Huchen im Fluss.
Weißt du, Jan“, begann Zorek langsam und ich spürte, dass es ihm jetzt wichtig war, „die Taimen sind uns heilig“.
Er schien seine Worte abzuwägen. „Der Taimen ist eng mit dem Menschen verbunden, ….er ist ein geheimnisvoller Fisch“. 
Es war eine Weile still im Dunkel der Hütte. 
Du darfst keinen Taimen töten, Jan, ….denn für jeden Taimen nimmt der Fluss einen Menschen“. 
Es wurde mir doch etwas unheimlich hier, wo ich sonst in unserer Welt nur ein Lächeln für solche Erzählungen hätte.
Der Taimen hat eine Seele wie der Mensch, und er wird auch so alt wie ein Mensch. Unsere Schamanen wissen das“. Ich stellte mir den großen Huchen vor, tief in seinem dunklen Gumpen im Fluss liegend, wie er die Wasserwelt um sich herum beobachtet, mit den großen beseelten Augen, und sich als ihr Herrscher fühlt. 
Und wenn es einmal keine Taimen mehr gibt, dann gibt es auch keine Menschen mehr“, klang seine Stimme trocken und betrübt aus dem Dunkel.  Es war still.
Auf jeden Fall würden dann keine Sportangler mehr kommen, wenn der Fluss leergefischt ist“ antwortete ich ihm nach einer Weile, um ihn aufzuheitern. 
Dann schliefen wir ein.


Ein lauter Aufschrei weckte mich aus dem Schlaf! Dann ein dumpfer Schlag in der Finsternis, wie wenn etwas Schweres auf den Holzboden fällt. Instinktiv packte ich mein Jagdmesser, das mit dem zusammengerollten Mantel unter meinem Kopf lag, und ließ mich mit einer Wende seitlich auf den Boden fallen, weg von dem großen Fenster. Dann noch ein schwerer, dumpfer Aufschlag von der anderen Hüttenwand. Ich hörte Zorek´s klagende Stimme. 
Zorek, was ist mit Dir? Bist Du in Ordnung?“ rief ich in die Finsternis. 
Stille. Nur das trockene Reiben eines Streichholzes. Nach dem dritten Versuch ging ein Licht an. Im schwachen Schein des hochgehaltenen Streichholzes sah ich Zorek und den Zotteligen auf dem Fußboden liegen. Zorek hielt sein Bein und klagte:
Ein Bär. Ich hab geträumt, er hat mein Bein gepackt und zieht mich durchs Fenster nach draußen!
Wir krümmten uns alle Drei auf dem Holzboden der Hütte und konnten vor Lachen nicht aufstehen.
Am Morgen war der Himmel wieder klar. Die Sonne schien und wir hatten alle unsere Sachen getrocknet. Das Schlauchboot lag ausgelassen und zusammengefaltet an der Hüttenwand, bereit für den Transport mit Pferden zurück ins Hauptlager. Der Kübel war mit Quellwasser gefüllt und ich spaltete Brennholz vor der Hütte. Die beiden Einheimischen bereiteten ein gebratenes Frühstück in der großen Pfanne zu. 
Während der gemeinsamen Mahlzeit unterhielten wir uns fröhlich und berieten uns. Dann nahmen die Zwei ihre langen Mäntel von der Wand und wickelten sich darüber die endlosen, bunten Stoffgürtel um den Leib. Ich gab Zorek die Axt mit auf den Weg. Aber er reichte sie mir zurück mit den Worten: „Du wirst sie hier brauchen“. <
Ich hatte nur ein leichtes Beil und einen Fuchsschwanz für Brennholz auf meinen Rucksack gebunden. 
Nach sieben Tagen“ sagte Zorek, als er sich verabschiedete. 
Ja, nach sieben Tagen“ antwortete ich und ich sah zu, wie sich die Beiden ihren Wegproviant, mit Butter bestrichene und in Wachspapier gewickelte Brote, in die Öffnung des Mantels schoben. Gerade auf den Bauch über dem Gürtel, wo die Pakete nicht durchfallen konnten. 
Am Rande der Lichtung traten die beiden Männer auf einen schmalen Wildwechsel, der zu dem Pfad führte, der einige hundert Schritte von der Hütte entfernt war. Zorek schaute sich noch einmal besorgt nach mir um, bevor er zwischen die Bäume trat. Eine Zeitlang sah ich sie noch im lichten Wald davongehen. Gemächlich und die Hände auf den Rücken gefaltet wie jemand, der einen langen Fußweg vor sich hat und seine Kräfte gut einteilen muss. Dann waren sie verschwunden. Ich ging zurück in die Hütte, räumte auf und bereitete meine Angelausrüstung vor….

Als ich aufwache, ist es bereits heller Morgen und das große Fenster blendet meine Augen. Ich habe gut und tief geschlafen. Draußen ist es seltsam hell. Ich stehe auf, stemme mich gegen die Hüttentür und trete hinaus. Die Lichtung und der Wald sind strahlend weiß. In der Nacht hat es geschneit und gegen Morgen hin blieb der Schnee liegen. Nachdem sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben, hole ich noch mehr Brennholz aus dem Wald. Am Rande der Lichtung stoße ich auf eine auffallend große Spur. Er war hier. Vor wenigen Stunden, nach dem Schneefall. Die Spur ist tief und scharf in dem frischen Schnee abgedrückt. Was für ein verflucht riesiger Bär!

Ich lese seine Spur, folge ihr ein Stück in beide Richtungen, um zu verstehen. Er stand hier eine Zeitlang zwischen den Bäumen, am Rande der Lichtung, keine zwanzig Schritte von der Hütte, und schaute zu mir herüber. Witterte und nahm den Geruch aus der Hütte auf. Den Geruch des verbrannten Holzes, der gebratenen Fische aus der Pfanne, und den menschlichen Geruch mit der feuchten Kleidung und dem Schlafsack…. 
Ich gehe zurück in die Hütte und stecke das lange Jagdmesser in der ledernen Scheide hinter meinen Gürtel. Dann esse ich die kalten Reste aus der Pfanne und werfe mir den Jagdrucksack mit der zusammengelegten Rute auf den Rücken. Nehme den Langbogen und den Köcher von der Wand und folge der Spur. Er geht den Wildwechsel entlang, auf dem ich sonst immer nur frische Elchspuren fand, und hinunter zum Fluss. Dann scheint er eine Weile zu überlegen, ob er sich hinauf in den Berghang wenden soll oder zum Flussufer, um dem Tal stromabwärts zu folgen. Zufrieden sehe ich, dass er sich zum Fluss wendet und weiter dem Ufer folgt. 
An einem guten Gumpen bleibe ich stehen auf der frischen Bärenspur, beobachte eine Weile das Wasser und hole dann die Rute aus dem Rucksack. Ich weiß, der alte Bär ist ganz in der Nähe. Bei Tagesanbruch hat er sich im Dickicht des Flussufers verborgen. Erst am Abend wird er wieder aus seinem Lager hervorkommen und weiter wandern.
Gegen Mittag habe ich genug geangelt und habe Hunger. Ich steige wieder den langen Wildwechsel hinauf zur Hütte. Zu meiner Überraschung und zu meinem Ärger sehe ich, wie Rauch aus der Jagdhütte aufsteigt. Auf der Lichtung vor der Hütte sind zwei Pferde angebunden, eine Schimmel-Stute und ein starker Rappen-Hengst. Ich stoße die Tür auf und sehe einen jungen Mongolen vor dem Ofen hocken, der mein aufgeweichtes Taschenbuch in den Händen hält und versucht, die aufgeschlagenen Seiten zu lesen. Der Kurier. Einen Tag zu früh.

Der junge Mann erhebt sich und steht nervös im Raum. Ich werfe den ausgenommenen Lenok in meiner Hand auf den Holzboden neben dem Ofen. Er hat eine Nachricht für mich. Von unserem Leiter des Hauptlagers am Tengis, der ehemalige MIG-Kampfpilot Lovi, ein leidenschaftlicher Jäger und mein Freund. Ich soll zurückkommen, alle würden sich schon Sorgen machen im Camp. 
Der Kurier steht immer noch breitbeinig in der Mitte der Hütte. Seine breiten Wangen sind gerötet vom Frost und vom langen Ritt. Als er meinen Unwillen sieht, beginnt er eifrig zu erklären, dass ich unbedingt mitkommen muss, dass er geschworen hat, nicht ohne mich zurückzukommen. Ich muss schmunzeln und wende mich ab. Dann zeige ich ihm das Haselhuhn und die Fische. Sobald er sie zubereitet hat und wir gegessen haben, könnten wir aufbrechen, sage ich ihm knapp. Sogleich macht er sich eifrig an die Arbeit. Ich beginne meine Sachen zusammenzupacken und die Hütte aufzuräumen...

Die Pferde sind in bester Verfassung. Eiskalte Bäche durchwaten sie ohne zu zögern, auf den steilen Bergpfaden gehen sie völlig sicher und schwindelfrei und mit einer bewundernswerten Konzentration. Die Rucksäcke sind gut verteilt und ausgewogen über den Sattel geschnallt, meinen langen Scabbard mit den Ruten und Rollen hat sich der Kurier quer über den Rücken gehängt. Mein schwarzer Hengst geht munter vorwärts und fällt jedesmal in einen fröhlichen Trab, wenn ich ihm den Hals lobend streichle nach einer schwierigen Passage. Die Sonne steht schon tief, als wir im Camp Chanagai ankommen. Wir machen nur kurz halt und wollen irgendetwas Kühles in unsere trockenen Kehlen gießen. Das Original Budweiser Bier haben die Australier und Neuseeländer schon längst ausgetrunken. Ich bekomme eine Flasche mit einem roten fünfzackigen Stern auf dem Etikett. Ohne Zweifel Sowjet-Bier. Aber es ist kalt und spült die Trockenheit gut herunter. Von nun an geht es nur noch in flottem Trab am Fluss entlang. Der Pfad ist jetzt breiter und das Gelände ebener.

Am Präsidenten-Pool finden wir eine frische Feuerstelle im Wald und ein verlassenes Holzgestell zum trocknen und räuchern von Fisch. Mein Kurier findet Spuren und auch die Stelle, an der ein rundes Spitzzelt aus Häuten stand. Eine Familie der wilden Tsaatan Nomaden war hier, die Rentiere hüten und den Sommer mit ihren Tieren auf den hohen Bergweiden verbringen. Sie wandern mit den Rentierherden zwischen Sibirien, Burjatien und der Mongolei frei umher. Nachdem sie ein paar Tage lang Fische gefangen und getrocknet hatten für den Winter, sind sie wieder in das Grenzland und in ihre wilden Berge gezogen.

Die Nacht ist längst hereingebrochen, als wir auf der weiten und offenen Hochebene vor uns endlich das Licht unseres Hauptlagers erkennen. Unsere Pferde sehen es auch und sie wissen, dass sie bald zurück sind im heimatlichen Stall. Ihr Trab wird wieder lebhafter und auch der junge Kurier auf dem Pferd vor mir, beginnt ein fröhliches Lied zu pfeifen. Wir durchqueren die Furt des eiskalten Tengis. Ich ziehe meine Lederstiefel hoch und aus den Steigbügeln heraus, um nicht nass zu werden. Dann geht es am anderen Ufer die steile Böschung hinauf und schließlich im Galopp über die weiten welligen Hügel und auf das Lager mit den erleuchteten Fenstern zu. 
An der Koppel steige ich steif vom Pferd herunter, beklatsche seinen feuchten Hals und gebe die Zügel mit einem Dank an den guten Kurier ab. Aus dem Gesellschaftsraum höre ich lautes Singen und Gelächter. Ich öffne die Tür und trete in den hell beleuchteten und dicht gedrängten Raum. Ein Johlen und eine unangenehme Wärme schlägt mir entgegen und der Geruch von Bier und von Zigarettenrauch….

Am nächsten Morgen habe ich bereits geduscht und alle meine Sachen sind schon zur Abfahrt verpackt. Die Freunde wollen einen Tag früher zurück, um noch etwas Zeit in Ulan zu verbringen vor dem Rückflug. Der geräumige russische Geländewagen ist gewaschen und gepflegt und aufgetankt. Ich verstaue mein Gepäck auf dem großen Haufen von Taschen und Rutenrohren der übrigen Angler. Zorek umarmt mich. Mit schwerem Herzen und meiner alten Nikon in der Hand, setze ich mich neben Lubomir auf den Sitz.
Mit einem Ruck fahren wir los und Bataa der Fahrer gibt Gas, denn es ist ein endlos weiter Weg ohne Straßen bis zum kleinen Provinz-Flugplatz in Moron. 
Als wir zur Jurte in der Nachbarschaft kommen, stößt mich Lubomir an und sagt: “Schau, da winkt dir Jemand.“ 
An dem Holzzaun bei der Jurte steht die junge Ziegenhüterin, die mir jeden Morgen den frischen Joghurt und die Preiselbeeren gebracht hatte. Sie winkt und läuft ein paar Schritte zum Weg, ich hatte vergessen mich zu verabschieden! 
Als wir vorbeifahren, schaue ich zurück und sehe das kleine Mädchen mit den langen schwarzen Zöpfen still und ernst am Wegrand stehen. 
Sie winkt noch, als der aufgewirbelte Staub unseres Wagens sie schon eingehüllt hat…